Auszeit in der Uckermark

Eigentlich war unser Plan, auf dem Westweg von Pforzheim nach Basel zu wandern. Schon als Kind hatte mich in meiner Heimatstadt ein Wanderwegweiser fasziniert, der den über 200 Kilometer langen Mittelweg von Waldshut nach Pforzheim anzeigt. Ich freute mich darauf, den Schwarzwald in seiner ganzen Länge zu erleben, doch die im Mai noch geschlossenen Unterkünfte und Restaurants vereitelten diesen Plan.
Seit fast einem Vierteljahrhundert leben wir inzwischen in Berlin. Bis wir nun endlich die zauberhaft schöne nordwestliche Uckermark kennenlernen. Der Covid-19-Lock-Down macht es möglich.
Bei angenehm sommerlichen Temperaturen satteln wir Anfang Juni unsere Räder. Tuckern mit der Regionalbahn von Berlin-Ostkreuz bis nach Templin. Anfang – und Endstation der Strecke. Auf den vorbeiziehenden Feldern suchen sich Kraniche ihr Futter zusammen. Auch einige Störche sehen wir in ihren Nestern sitzen. Bedarfshaltestellen mit so bildhaften Namen wie Vogelsang und Hammelspring stimmen uns auf einen Urlaub in der Natur ein.
Templin ist ein hübsches Städtchen. Es empfängt uns mit einer nahezu komplett erhaltenen Stadtmauer und einem gewaltigen Stadttor, dem Prenzlauer Tor. Hier ist das Museum für Stadtgeschichte untergebracht. Unseren Besuch dort verschieben wir auf das nächste Mal. Jetzt zieht es uns hinaus. Auf holprigen Pflasterstraßen verlassen wir über eine überdachte Fußgänger-Holzbrücke den Ort und erreichen nach kurzer Suche den ausgeschilderten Radweg Spur der Steine.
Der Weg ist ein Genuss. Geleitet uns durch lichten Mischwald. Flirrendes Sonnenlicht bricht durch die Baumkronen. Immer wieder tauchen Seen auf. Badestellen. Kleine Weiler. Kiefern und Holunderbüsche betören uns mit ihren Düften. Am Wegrand begrüßen uns blau-rosa-lila blühende Lupinengruppen. Wir berauschen uns am Blick über tiefrot leuchtende Mohnblumenfelder. Gelegentlich durchtupft von blauen Kornblumen.
Gibt es eine schönere Radel-Autobahn? Und das Ganze ohne Stau. Ohne Gedränge. Ein paar wenige Menschen kommen uns auf der Strecke entgegen. Alle sehen sie glücklich aus. An diesem Bilderbuch-Sommertag.
Entspanntes Radfahren ohne nennenswerte Steigungen. Diese fordern uns nur auf dem letzten Wegstück kurz heraus. Zwischen Hardenbeck und Boitzenburg. Doch da sehen wir auch schon unser Ziel vor Augen. Den Turm der evangelischen Pfarrkirche Sankt Marien auf dem Berge.
Direkt gegenüber dem sehr schön renovierten Fachwerk-Pfarrhaus logieren wir in den kommenden Tagen in einer gemütlichen Ferienwohnung. Genießen die warme Atmosphäre, die sie ausstrahlt. Die gewachsten Holzböden, die den Füßen schmeicheln. Wir spüren die Leidenschaft und Sorgfalt, mit der James, unser sympathischer Vermieter, nach und nach das große Anwesen herrichtet.
Im Ort gibt es einen Edeka, der uns mit dem Nötigsten versorgt. Wegen der sehr eingeschränkten Öffnungszeiten von Lokalen – manche sind noch ganz geschlossen – kochen wir selbst. Nur an einem Abend kehren wir ein, in den an historischer Stelle ansässigen Gasthof zum Grünen Baum. Im lauschigen Innenhof ist es uns auf Dauer zu frisch. Wir wechseln nach drinnen, in den heimeligen Gastraum, im ehemaligen Pferdestall. Nächstes Mal können wir hoffentlich auch bei lauen Temperaturen im Biergarten sitzen. Möglicherweise sogar in einem der fünf hübsch und individuell eingerichteten Hotelzimmer übernachten.
Auch der MoccaMilchEisBar statten wir natürlich einen Besuch ab. Derzeit vor allem ein Einheimischen-Treff. Ansehnliche Eisbecher werden verspeist. Das Eis stammt aus eigener Produktion, wie auch Kuchen und Kekse. Dazu schlürft man leckeren Kaffee.
Tagsüber sind wir unterwegs. Auf Entdeckungstour per Drahtesel oder per pedes. Durch die dünnbesiedelte Uckermark.
Nach der Wende wanderten viele ab. Während der DDR-Zeit staatlich genutzte Gutshäuser und Schlösser standen nun leer. Verfielen. Es dauerte ein Weilchen, bis die Berliner Stadtflüchtlinge die Region entdeckten. Inzwischen sind viele Anwesen zu neuem Leben erweckt. Gemeinschaften gegründet. Ökohöfe. Träume werden gelebt. Sehnsuchtsorte entstehen. Pensionen. Hotels. Ferienwohnungen. Vielfältige Manufakturen und Restaurants öffnen.
Zugezogene wie die Apfelgräfin Daisy von Arnim überlegen gezielt, wie sie die strukturschwache Region unterstützen, Arbeitsplätze für die Einheimischen entstehen lassen können. Ihr gelingt es, ein wunderschönes und florierendes Kleinod zu schaffen. Im Mittelpunkt steht ein Ortsansässiger, der Apfel. Alles beginnt mit einer Mosterei. Dann kommen immer mehr Produkte rund um das Obst hinzu. Ein Café und mehrere Ferienwohnungen entstehen. Wir genießen die entschleunigte Atmosphäre. Kosten diverse Leckereien. Blicken vom Café aus in den kleinen Park mit alten Bäumen und Buchsbaumhecken. Können uns in dem kleinen, feinen Leckereien-Shop nur schwer entscheiden. Letztendlich fällt unsere Wahl auf Apfelkraut und Apfelfruchtschnitten. Hier mal ein paar Tage Urlaub machen …
Oder lieber auf Gut Falkenhain? Auch dort fühlen wir uns dem wuseligen Alltag komplett enthoben, als wir auf dem großzügigen, gepflasterten Hof des Anwesens stehen. Umgeben von Gutshaus und Stallungen. In der Mitte ziehen zwei Pferde ihre Bahnen, von einem weißen Holzgatter umzäunt. Aus der Küche duftet es verlockend. Das Mittagessen für die Gäste von Gutshaus und Kinderhotel schmort in den Töpfen auf dem Herd. Wir decken uns hier zu unserer eigenen Versorgung mit einem Glas Apfelmus ein, je mit einem Fläschen Zitronenmelissensirup und Quittenbrand, und mit Leber- und Jagdwurst vom Wollschwein. Wir sind überglücklich über diese hochwertigen und köstlichen Habseligkeiten aus nachhaltiger Landwirtschaft direkt vom Hof. Gut zu wissen, wo die Dinge herkommen. Und auch die Menschen kennenzulernen, die dafür Sorge tragen.
Frau von Senger und Etterlein hat das Anwesen vor etwa zwei Jahren übernommen. Und führt es nun als Archehof, zum Erhalt alter Nutztierrassen. Es bleibt ein bisschen Zeit zum Gespräch. Der behutsame Umgang mit Natur und Tieren ist ihr eine Herzensangelegenheit. Als Partner des Naturpark Uckermärkische Seen liegt auch dem Gut Falkenhain an einer nachhaltigen Regionalentwicklung.
Das nördlichste Ziel während unserer Uckermark-Tage ist der Demeterbauernhof Weggun. Ein einprägsamer Name, auch für das Dorf, vor dessen Toren sich der Hof auf 38 Hektar ausbreitet. Er ist uns bereits aus den Bioläden Berlins ein Begriff. Wo vor allem Eier und diverse Beerenprodukte Absatz finden. Wie schön, dass wir einen kleinen Einblick in die Lebens- und Arbeitswelt der positiv gestimmten Familie van der Hülst bekommen können, die den Hof seit 2009 bewirtschaftet. Zu ihrer Philosophie gehört die Entschleunigung. Erst mal schauen und sich davon überraschen lassen, was die Natur selbst regelt, ohne dass der Mensch eingreift. Auf die Verwandlung der Larven in Marienkäfer warten, die sich dann die Läuse schmecken lassen. Das nächste Vorhaben: noch viel mehr Hecken setzen. So leben die Pflanzen geschützter, sind weniger gestresst. Und dadurch weniger anfällig für Schädlinge. Zudem bieten die Hecken Unterschlupf für Vögel. Auch diese laben sich am Ungeziefer. Ein wunderbar organischer Kreislauf.
Glücklich ziehen wir wieder von dannen, mit frischem Rhabarber und Himbeersirup im Gepäck. Und nicht, bevor wir auch noch ein Schwätzchen mit den Hühnern gehalten haben.
Noch einem weiteren Biohof statten wir einen Besuch ab. Dem Hof im Winkel. Man könnte auch sagen, dem Hof im letzten Winkel. Die Adresse lässt uns nicht vermuten, dass er so weit außerhalb des Ortes Thomsdorf liegt. Auf den letzten 500 Metern rutschen wir mit unseren Rädern durch den Sand. Unsere hartnäckige Suche lohnt sich. Vor dem Eingangstor zu einem Anwesen, das wir gar nicht zu Gesicht bekommen, steht ein Holzhüttchen. Dahinter verbirgt sich ein Selbstbedienungsladen. Wir freuen uns über frische Kräuter, Kohlrabi, Apfelmöhrensaft, Pfirsichmarmelade und Kräutertee.
Immer wieder gibt es auch Angebote am Wegesrand. Honig, Eier und weitere Kräuter. So haben wir innerhalb kurzer Zeit allerlei Leckereien beisammen und können uns am Abend auf das Allerköstlichste selbst bewirten.
Wie gerne hätten wir auf unserer Tour in Thomsdorf in der Kantinenwirtschaft das angepriesene Essen für die Seele genossen. Leider ist wegen Corona auch hier geschlossen. Uns bleibt nur ein sehnsüchtiger Blick auf die außen hängende Tafel. Auf die Ankündigung von Lammeintopf und Gemüsesuppe. Die Kunsthandwerksläden des Hof-Ensembles sind geöffnet. Doch danach ist uns gerade nicht.
Dafür werfen wir einen Blick in die Thomsdorfer Kirche. Geziert von einem spätgotischen Marienaltar und Weihekreuzen an den Innenwänden. Und gusseisernen Kreuzen vor der Kirche.
Wir kommen am Landhaus Buchenhain vorbei, ein wohlproportionierter Bau aus den 1920er-Jahren. Heute ein kleines Landhotel mit ganzheitlichem Konzept. So lese ich es auf der Webseite des Hauses. Derzeit wirkt es wie ausgestorben.
Gleich daneben steht das Landhaus Arnimshain. Auch dieses ein Hotel mit nachhaltigem Schwerpunkt. Betrieben mit regenerativer Energie und einer Küche mit regionalen Produkten. Eine Bewirtung ist – coronabedingt – derzeit nur für Hausgäste möglich.
Immerhin – die ebenfalls hier ansässige Naturseifen-Manufaktur hat geöffnet. Wir lassen uns von den Düften leiten und testen Gesichts-Körperpflege-Produkte. Kaufen eine Shampoo-Seife und einen Limetten-Cremeschaum. Der kommt im Glastiegel daher. Erinnert an eine Nachspeise. Beste Nahrung für ausgehungerte Haut.
Die Sehenswürdigkeiten von Boitzenburg erkunden wir an den Spätnachmittagen. Das imposante Doppelschloss, seit dem 16. Jahrhundert, bis 1945, im Besitz der Familie von Arnim, umrunden wir von außen. Es beherbergt heute ein Kinder-Familien-Gruppen-Hotel. Und ein Restaurant, von dessen Terrasse sich ein herrlicher Blick über den einst von Peter Joseph von Lenné gestalteten Landschaftspark und den Küchensee bietet. Der zum Schloss gehörige Marstall vereint verschiedene kulinarische Handwerke. Bäckerei. Konditorei. Kaffeerösterei. Schokoladen- und Eismanufaktur. Und eine Brauerei. Wir beobachten bei einem Stück Torte samt Kaffee draußen sitzend das muntere Treiben. An diesem Sonntag treffen sich hier die Menschen des Boitzenburger Landes. Und freuen sich über ihr Wiedersehen. Nach den Wochen überwiegend hinter verschlossenen Türen.
Am anderen Ende des Ortes – 1,5 Kilometer entfernt – steht die historische Mühle, ursprünglich im Besitz des 1271 gegründeten, nebenan gelegenen Zisterzienserinnen-Klosters. Im 17. Jahrhundert während des Dreißigjährigen Krieges zerstört, stehen die Ruinen der großen Anlage heute malerisch zwischen hohem Gras und alten Bäumen. Ein magischer Ort. Die Mühle klappert bis heute am rauschenden Bach, dem durch Boitzenburg sich schlängelnden Marienfließ. Über die Jahrhunderte immer wieder technische Neuerungen aufgreifend, lässt sie sich heutzutage im Rahmen eines Museumsbesuches bestaunen. Mit etwas Glück setzt der Museums – Müller die beeindruckende Apparatur in Bewegung, die dann über mehrere Stockwerke im Gebäudeinnern rumpelt und pumpelt.
Auch der Boitzenburger Kirche, die mittig im Straßendorf auf einem Hügel thront, statten wir unseren Besuch ab. Wohl erst jüngst restauriert, erstrahlt das Innere in neuem Glanz. Für uns etwas Besonderes ist das Kastengestühl. Jede Bankreihe wird durch ein Türchen verschlossen. Wie so viele Kirchen der Region stammt der Ursprungsbau aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts.
Die Lektüre in der Kleine(n) Kirchenkunde von Alfred Rauhaus klärt mich auf. Verbreitet in Norddeutschland, schützt das Kastengestühl ein wenig vor Kälte. Manche brachten sich eine Fußbank mit, die sie mit Torf beheizten. Um die langen Gottesdienste in einem Gotteshaus ohne Heizung zu überstehen. Was für eine Luft dort geherrscht haben mag, ist wieder ein anderes Kapitel.
Der Kleine(r) Boitzenburger, 2009 vom WanderMagazin als Teil der Uckermärker Landrunde zu einem der schönsten Wanderwege Deutschlands erkoren, führt über etwa 11 Kilometer Länge in einer 8 um das Schloss. Eine geschichtsträchtige Spazierrunde. Da steht im Laubdickicht ein Denkmal für den im 19. Jahrhundert in der preußischen Politik aktiven Adolf Heinrich Graf von Arnim – Boitzenburg. Die schon seit Jahren mit einem Notdach dürftig geschützte Rote Kapelle, entworfen von Martin Gropius, suchen wir gezielt. Auch sie fristet ein verstecktes, etwas trauriges Dasein mitten im Wald. Erbaut aus roten Ziegeln und verschieden grün glasierten Ziegelsteinen, wartet das Kirchlein darauf, mit Hilfe von genügend Spendengeldern wieder in neuem Glanz erstrahlen zu können.
Wunderschön der Badestrand am Schumellensee. Er ist verwaist. Zum Baden ist es zu kühl. Wir genießen den Ausblick über den See. Gegenüber schmiegen sich goldgelb gefärbte Getreidefelder an die sanft geschwungenen Hügel. Der mächtige Turm der Kirche von Hardenbeck lugt zwischen den hohen Bäumen hervor. Der Wind raschelt durch die Blätter. Sanfte Wellen plätschern ans Ufer. Ein Schilfrohrsänger schmettert seine virtuosen Weisen. Die Wolken jagen sich ständig verwandelnd über den Himmel. Und geben immer wieder auch blauen Himmel und die Sonne frei. In der Ferne gleitet erst ein Kanu vorbei. Dann ein Anglerboot. Libellen schillern über dem Wasser. Eine Unke kann sich gerade noch vor unseren Füßen in Sicherheit bringen. Ihr warziges Kleid versetzt uns in Staunen.
Ein Teil des Weges führt durch den im 19. Jahrhundert einst von Lenné angelegten Landschafts – Schlosspark, den Carolinenhain. Um die damals angelegten Sichtachsen und Bezüge zu erahnen, müsste man alte Pläne dabei haben oder auch mit fachkundiger Führung unterwegs sein. Einfach so ist die historische Anlage nicht mehr nachvollziehbar.
Ehrfürchtig stehen wir vor einer großen Anzahl jahrhundertealter Buchen und Eichen, die auf einen sogenannten Hutewald zurückgehen. Einst grasten hier in den Wäldern vor allem Schweine, Schafe und Ziegen, die die Triebe junger Bäume permanent abknabberten, so dass die schon höher gewachsenen Bäume viel Platz zur Entfaltung hatten. Heutzutage sind viele dieser altehrwürdigen Baumriesen abgestorben oder aber davon bedroht, weil sie von den inzwischen wieder hemmungslos nachwachsenden Jungbäumen bedrängt werden. Dafür sind die riesigen Totbäume nun Insektenhotels. Oder auch Wohnungen für Specht & Co.
Ganz bestimmt möchten wir bald wieder in die Uckermark. Gerne auch wieder im späten Frühjahr, wenn die Vogelwelt um die Wette singt. Wir haben so viele unterschiedliche Singvögel belauscht. Und erkennen gerade mal Amseln, Nachtigallen und Schilfrohrsänger. Dann erschöpfen sich unsere Kenntnisse. Das nächste Mal buchen wir vorab eine Führung mit einem ortskundigen Ranger. Und lernen dazu. Die Sinne geöffnet, wie immer beim Unterwegssein.
Mehr Fotos zum Schwelgen gibt es hier.
Helga Knocke
2. August 2020 at 8:14Liebe Doris,
Ich bin im Augenblick bei meiner Schwester in Paderborn und entdecke bei einer Tasse Kaffee im Bett deinen Reisebericht durch die Uckermark. Er liest sich so wunderbar und macht total neugierig auf dieses Stückchen Erde. An dir ist eine Schriftstellerin verloren gegangen, deine Beschreibungen zaubern wirklich die lebendigsten Bilder vor mein inneres Auge. Danke für diese zauberhafte Beschreibung.
Mit lieben Grüßen
Helga Knocke
Berlin